Kenia: Ziegen und Schafe für Selenkei
10.06.2025
Nach drei Jahren Dürre schaffen ein Aufstockungsprogramm für Herden und der begleitende Aufbau einer Kooperative eine neue Lebensgrundlage für Massai-Familien.
Das rote Tuch, das sich Oloishiro Ole Kupere umgebunden hat, weht leicht im Wind. Er führt eine überschaubare Herde von acht Ziegen, sieben Schafen und einer Kuh in den Nachtpferch aus Akazienzweigen. Viele Massai leben bis heute als Viehhirten. Ihr Leben war lange Zeit vom Rhythmus der Natur geprägt: von Trocken- und Regenzeiten, vom Zugang zu Flüssen und Weideflächen und von den Wanderungen der Wildtiere. Dieser Rhythmus ist jedoch seit ein paar Jahren im Gebiet von Selenkei im Süden Kenias gestört.
2022 und 2023 verloren die Massai in Selenkei aufgrund einer verheerenden Dürre bis zu 90 Prozent ihrer Tierbestände. Da die Tiere Grundlage ihrer Existenz sind und Einkommensalternativen fehlen, stieg der Druck auf das Gemeindeland. Korrupte Politiker*innen, Beamte und offizielle Vertretungen der Gemeinden nutzten die Situation und setzten illegal die Parzellierung des Gemeindelandes durch. Ein Gerichtsprozess gegen die illegale Landaufteilung wurde beendet, indem die Richterin in ein anderes County versetzt wurde. Jeder Familie des Gebietes wurden 47 Hektar Land zugesprochen. Wer sich gegen die Parzellierung aussprach, hat bis heute keinen Landtitel erhalten.
Die Amboseli Massai Development Organization (AMDO) wurde von Leonard Onetu gegründet, Mitglied der Massai Group Ranch Selenkay. Leonard Onetu hatte das Glück, dass seine Gemeinde seine Schulbildung finanzierte. Er absolvierte Internatsschulen bis zum Abitur, studierte Soziologie und schloss mit einem Master ab. Unter den rund 146.000 Menschen des gesamten Distriktes ist Leonard Onetu bis heute einer der wenigen Universitätsabsolventen. Mehrere Jahre arbeitete er für verschiedene kenianische Nichtregierungsorganisationen und das kenianische Landwirtschaftsministerium. Dann wuchs in ihm der Wunsch, etwas von dem zurückzugeben, was er durch seine Gemeinschaft erhalten hatte. Im Gespräch mit den Ältesten der Gemeinde kam die Überlegung auf, eine waldorfinspirierte Schule aufzubauen. Leonard Onetu zu dem Vorhaben: „Die Schule ist ein großes Glück für unsere Gemeinde. Sie gibt uns die Möglichkeit, Werte wie Achtung der Natur und Solidarität unter den Menschen, die uns als Massai wichtig sind, mit einer guten Ausbildung für unsere Kinder zu verbinden.“
Selenkei liegt im Südwesten Kenias in der Provinz Kajiado. Hier baut die lokale Massaigemeinde unter Leitung der Organisation Amboseli Massai Development Organisation (AMDO) eine Waldorf inspirierte Grundschule auf, die – wie in Kenia Standard – bis zur siebten Klasse führt und in der auch die praktischen Fähigkeiten der Kinder geübt werden. Sie ist, zusammen mit ihrem Kindergarten Naretoi („Wir kommen zusammen“) im Jahr 2016 offiziell eingeweiht worden. Die Schule soll den Kindern der Massai zum einen den Zugang zu „konventioneller“ Bildung ermöglichen und zum anderen alltagspraktische Fähigkeiten sowie organischen Landbau nahebringen. Das Projekt wird umfassend von der Gemeinde vor Ort getragen. So stellte die Gemeinde das Schulgelände zur Verfügung. Sie steuert zusätzlich zu ihrem Arbeitseinsatz vor Ort verfügbare Baumaterialien wie Sand, Kies und Wasser zum Bauvorhaben bei. AMDO koordiniert den Ausbau der Schule und trägt mit dafür Sorge, Menschen aus der Gemeinde auszuwählen, die sich für die Arbeit als Lehrer*in oder als Kindergärtner*in weiter qualifizieren. So wird in die Zukunft der Kinder investiert und zugleich die gesamte Gemeinschaft gestärkt.

Gemeinsame Landbewirtschaftung sichert große Weideflächen
Die Parzellierungen führen dazu, dass Weideflächen für Familien kleiner werden. Auch der Lebensraum für Wildtiere schrumpft dramatisch. Diese Weideflächen reichen, wenn überhaupt, nur für kleine Herden. Und sie müssen kenntnisreich bewirtschaftet werden, um Überweidung zu vermeiden. Damit diese kleinen Herden eine Einkommensgrundlage bieten, müssen es Tiere sein, die sowohl Fleisch als auch Milch liefern. Besonders geeignet sind Ziegen und Schafe, da sie resistenter sind und sich breiter ernähren können als Rinder, die Gras benötigen.
Die Massai-Familien müssen neue Techniken der Tierhaltung und -zucht erlernen. Zudem sollten Familien, die sich gegen Parzellierung aussprachen, ihr Land nach Möglichkeit gemeinsam bewirtschaften, um so möglichst große Weideflächen für ihre Tiere und für Wildtiere zu sichern.
Wiederaufstockung und Kooperativaufbau
Die elfköpfige Familie von Oloishiro Ole Kupere hat in der Dürre fast alle Tiere verloren. Lediglich vier Ziegen und drei Schafe sind übriggeblieben. Die Eltern sahen sich gezwungen, ihre Kinder aufgrund fehlenden Einkommens aus der Schule zu nehmen und als Tagelöhner auf umliegenden Gemüseplantagen zu arbeiten.
Doch der Regen kam zurück und mit ihm Hoffnung und Mut zu neuen Schritten. Unter dem Motto „Leben verändern, Zukunft gestalten“ haben sich die Menschen in einer Kooperative organisiert. Erstes Ziel war, den Verlust an Tieren auszugleichen. Gemeinsam entwarfen sie ein Wiederaufstockungsprogramm, das kleine Tierbestände an Familien verteilt. In den letzten zwei Jahren haben die 80 bedürftigsten Familien der Gemeinde einen Grundstock an Tieren erhalten.
Auch Oloishiro Ole Kupere erhielt in der ersten Runde eine Kuh. Sie gibt der Familie Milch, die sie verkaufen. Zur Zubereitung der eigenen Nahrung nutzt Sadura Lekisho, Ehefrau von Oloishiro, die Milch ihrer Ziegen. Im Sommer 2024 erhielt sie vier Ziegen und vier Schafe. Nun hat sie genug Milch, um nicht nur die eigene, sondern auch die Familie ihrer Schwägerin mitzuversorgen und auf dem lokalen Markt Ziegenmilch zu verkaufen. Die fünf jüngeren der sieben Kinder besuchen seit einem halben Jahr wieder die Schule.

Nächstes Ziel: gemeinsam Landtitel gewinnen
Neben der finanziellen Unabhängigkeit für die Familien ist seit dem Erstarken der Kooperative auch die Solidarität und der Zusammenhalt in der Gemeinde spürbar. „Wir haben gelernt, dass wir gemeinsam auch in Krisenzeiten füreinander sorgen können“, sagt Lekisho mit einem Lächeln, während sie die frische Ziegenmilch in einen Eimer umfüllt.
Das nächste Ziel der Kooperative ist, gemeinsam die ausstehenden Landtitel zu erstreiten. Dann möchten sie dieses Land gemeinsam bewirtschaften. Und sie würden gerne in diesem August 260 weitere Tiere an Familien vergeben, darunter 250 Schafe und Ziegen sowie zehn Kühe. In einer Vollversammlung der Kooperative entscheiden sie, welche Familien die Tiere erhalten sollen. Präferenz haben bedürftige Familien, Witwen und Menschen mit Behinderung. Gemeinsam haben sie zudem Konzepte zur Beweidung von Flächen entwickelt und mit der Anlage von Grasbanken Vorsorgekonzepte für ausreichende Futtermengen in Dürrezeiten umgesetzt.
Die ökonomische und soziale Stärkung der Haushalte befähigt die Menschen in Selenkei vor allem auch, ihren Kindern Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Den Menschen der Gemeinde ist klar: Bildung ist der Schlüssel, um Antworten auf die wachsenden Herausforderungen zu finden und den Kindern eine Grundlage für ihre Zukunft zu geben.
Ein Schaf oder eine Ziege kosten 80 Euro, Schaf- und Ziegenböcke 200 Euro. Eine Kuh kostet rund 300 Euro. Für die Verteilung der Tiere werden in diesem Jahr noch rund 25.000 Euro benötigt.
