Rückzugsraum und Schule für arbeitende Kinder

In Tiruvannamalai betreibt unser Projektpartner WARM (Welfare Association for the Rural Mass) 13 Jugendzentren für arbeitende Kinder. Hier können sie lernen, um den Wiedereinstieg in die Schule oder einen außerschulischen Volksschulabschluss zu schaffen. Derzeit besuchen 285 Kinder die Bildungseinrichtungen von WARM.

Indiens Wirtschaft wächst mit durchschnittlich 7 % im Jahr. Auf dem riesigen Subkontinent konzentriert sich der Wirtschaftsschub aber nur auf einige Regionen und Ballungszentren. Breite Schichten der Gesellschaft haben keinen Anteil an dieser Entwicklung. In den letzten Monaten der Corona-Pandemie hat sich die Lage für diese Menschen dramatisch verschärft.

Mehr über WARM

Die Welfare Organization for the Rural Mass (WARM) wurde mit dem Ziel gegründet, die Lebensbedingungen der ländlichen Bevölkerung in den Dörfern rund um Tiruvannamalai zu verbessern. Heute unterhält WARM in Tamil Nadu 13 informelle Lernzentren für arbeitende Kinder und Straßenkinder und bietet drei Ausbildungsgänge für Schulabbrecher*innen an. Zusätzlich unterhält WARM zwei Heime für Senior*innen und ein Kinderheim sowie eine organische Farm und einen kleinen Milchviehbetrieb. Seit 2001 fördert WARM zudem im Rahmen eines Mikrokreditprogramms Frauen aus ländlichen Regionen in ihrer Selbstständigkeit.

Die gemeinnützige Organisation Welfare Association for the Rural Mass (WARM) wurde 1983 gegründet. Der Gründer und erste Leiter der Organisation verstarb früh. Der heutige Geschäftsführer, K. Rajavelu, begann Ende der 90er Jahre für WARM zu arbeiten. Selbst als Kastenloser geboren, absolvierte er die Volksschule und lernte im Rahmen vieler Fortbildungen weiter. Als Kind war er selbst noch mit der rechtlosen Situation von Kastenlosen konfrontiert.  So musste er mit seinem Vater zu seinem „Besitzer“ gehen, um die Erlaubnis zu erhalten, die Schule zu besuchen. Mittlerweile setzt sich Herr Rajavelu mit WARM für die Verbesserung der rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen benachteiligter Gruppen in Tamil Nadu, Südindien, ein.

Zugang zu Bildung ist eine Grundlage, um diese Situation zu ändern

Obwohl etwa 96 % aller Kinder eingeschult werden, besuchen im Alter von 10 Jahren nur noch 60 % die Schulen, 40 % werden zu so genannten „drop outs“. Zwischen der dritten und achten Klasse ist der Anteil der Abbrecher*innen besonders hoch. Gerade Mädchen ärmerer Schichten und Kinder in Slums und auf dem Land zählen dazu. Denn viele Kinder müssen arbeiten, um zum Lebensunterhalt ihrer Familien beizutragen. Häufig können ihre Eltern den Besuch staatlicher Schulen nicht tragen. Denn auch hier sind Gebühren für Klassenarbeiten, Schuluniform, etc. zu bezahlen.

Durch mangelnde Ausbildung setzt sich die Armut über die Generationen fort. Deshalb griff die indische Regierung zur „informellen Schulbildung“: Kinder, die die Grundschule nicht abgeschlossen haben, können Schulabschlüsse auf individuellem Wege nachholen.

Zehn Zentren von WARM liegen in kleinen Dörfern, drei in kleineren Städten. Diese Zentren sind nachmittags und abends geöffnet. Für Straßenkinder, arbeitende Kinder und Jugendliche gibt es die Möglichkeit, mit Sozialarbeiter*innen Schulstoff anhand eigens dafür erarbeiteter Lernmaterialien nachzuholen. Die Lernmaterialien wurden vom Staatlichen Ressource Centre (SRC) erarbeitet. Sie zielen darauf, Lesen und Schreiben sowie Grundrechenarten zu vermitteln. Wenn die Kinder diese Lernmaterialien durchgearbeitet und die Prüfungen bestanden haben, werden sie auch auf Regelschulen akzeptiert bzw. sie haben sich einen anerkannten Volksschulabschluss erarbeitet.

Gleichzeitig geht es in diesen Zentren darum, Kindern und Jugendlichen einen Anlaufpunkt und geschützten Ort zu bieten. Sie spielen, machen Ausflüge und lernen etwas über Ernährung, Gesundheit und Kinderrechte. Sozialarbeiter*innen vermitteln bei Problemen mit Arbeitgeber*innen und sorgen dafür, dass Rechte der Kinder eingehalten werden.

Sasikala und ihre Schulkarriere

P. Sasikala kommt aus Mel Puzhuthiyur, einem winzigen Dorf im südindischen Distrikt Tiruvannamalai. Ihr Vater Perumal und ihre Mutter Vanitha sind Analphabet*innen. Sie haben vier weitere Kinder, Sasikala ist die älteste Tochter. Die Familie besitzt kein Land und gehört zu den Kastenlosen.

Das Wenige, was die Eltern verdienten, erhielten sie für ihre Arbeit als Tagelöhner*innen; etwa 3.600 indische Rupies pro Monat (ca. 43 Euro) - nicht ausreichend, um eine Familie dieser Größe zu ernähren. Deshalb musste Sasikala, kaum dass sie die Eingangsklasse der Grundschule besucht hatte, die Schule schon wieder verlassen. Sie sollte Kühe und Ochsen des Dorfes hüten, um so Geld für den Familienunterhalt beizutragen. Zudem gingen die Eltern davon aus, dass das Mädchen ohnehin heiraten würde – wozu also die Schule besuchen?

Doch Sasikala wollte ihren Schulbesuch fortsetzen. Sie lernte das Zentrum von WARM kennen. Gemeinsam mit der Sozialarbeiterin Frau Meen sprach sie mit ihren Eltern - und konnte sie überzeugen. Nach nur einem Jahr im informellen Schulprogramm gelang Sasikala der Einstieg in die achte Klasse der staatlichen Highschool Melpuzhuthiur.

Umdenken in der Gesellschaft

Neben der Arbeit mit jedem einzelnen Kind setzen sich die Mitarbeiter*innen von WARM dafür ein, dass Kinderschutz-Gesetze, die es offiziell gibt, wirklich zur Anwendung gebracht werden. Zunächst wird die Arbeitsdauer für Kinderarbeiter auf einen halben Tag beschränkt, so dass ein Besuch des Schulzentrums möglich wird. In diesem Sinn versuchen die Sozialarbeiter*innen ein Umdenken in der Gesellschaft anzustoßen. In gemeinsamen Aktionen wird dafür geworben, die Bedeutung von Ausbildung anzuerkennen und sie Kindern zu ermöglichen.

Durch die Arbeit der letzten Jahre konnten in einigen Gebieten außerschulische Lernorte geschlossen werden, weil Kinderarbeit nach jahrelangem Einsatz in dieser Gegend tatsächlich abgeschafft wurde. Herr Rajavelu, der Initiator der Zentren, hofft darauf, dass sie bald nicht mehr gebraucht werden. Doch die Corona-Krise rückt dieses Ziel wieder in weitere Ferne. So sind diese außerschulischen Lernorte noch auf Spenden angewiesen.

Die Kosten für das begleitende Angebot in den Kinderzentren belaufen sich auf rund 18.000 Euro pro Jahr.